Verantwortung in Vielfalt.

Plädoyer für eine offene Regelung der Sterbehilfe

von Rolf Schieder, Bernhard Schlink und Irmgard Schwaetzer

Vor bald zwei Jahren hat das Bundesverfassungsgericht das Recht auf selbstbestimmtes Sterben anerkannt und den Gesetzgeber zu einer Regelung der Sterbehilfe angehalten. Die Regelung drängt. Die geschäftsmäßige Sterbehilfe, die der Gesetzgeber verboten hatte, die er, so das Bundesverfassungsgericht, nicht verbieten durfte, deren Gefahren er aber durch eine Regelung vorbeugen soll, findet weiter statt; der Verein Sterbehilfe hat in einer Pressemitteilung für das letzte Jahr 139 Sterbehilfen gemeldet.

Unlängst wurde der letzte und engste von mehreren Regelungsentwürfen aus der Mitte des Bundestags vorgelegt; er will die Durchsetzung des Rechts auf selbstbestimmtes Sterben derart beschränken, dass Stimmen in der Presse eine erneute Anrufung und Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts voraussagen. Es mag verständlich sein, dass im Bundestag, der das Verbot der geschäftsmäßigen Sterbehilfe erst 2015 eingeführt hatte, wenig Neigung besteht, den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts zu folgen. Aber nur eine den Vorgaben folgende Regelung wird vor dem Bundesverfassungsgericht als verhältnismäßige Beschränkung des Rechts auf selbstbestimmtes Sterben Bestand haben. Die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts sind streng. Zugleich lassen sie eine offene Regelung der Sterbehilfe zu, die die Verantwortung auf viele Schultern verteilt, auch auf die der Kirchen.

Als Kernstück der Regelung sieht das Bundesverfassungsgericht eine Beratung der Suizidwilligen vor, in der die freie und autonome Entscheidung, sich bewusst und gewollt selbst zu töten, respektiert wird; die Entscheidung darf nicht als solche missbilligt, nicht unter religiösen und anderen gesellschaftlichen Wertvorstellungen oder Maßstäben objektiver Vernünftigkeit beurteilt und nicht nur bei schweren, unheilbaren oder tödlichen Krankheiten oder beim Vorliegen bestimmter Ursachen oder Motive anerkannt werden. Die Beratung darf nicht auf ein bestimmtes Ergebnis zielen, sondern lediglich darauf hinwirken, dass die Entscheidung zum Suizid tatsächlich frei und autonom getroffen wird. Hierfür muss sie sich vergewissern, dass die Suizidwilligen

  • die Entscheidung für den Suizid nicht unter dem Einfluss einer akuten psychischen Störung treffen,
  • nicht durch das familiale oder soziale Umfeld unter Druck gesetzt werden, den Suizid zu begehen oder auch nur sich mit der Möglichkeit des Suizids zu beschäftigen,
  • über Alternativen zum Suizid, Möglichkeiten der Veränderung der Lebenssituation einschließlich der Möglichkeiten medizinischer Behandlung und palliativmedizinischer Betreuung informiert sind,
  • über den Ablauf des Suizid informiert sind und
  • an der Entscheidung für den Suizid mit einer gewissen Dauer festhalten und dadurch die Ernsthaftigkeit und Festigkeit der Entscheidung beweisen.

Dies sind anspruchsvolle Anforderungen an die Beratung – wie anspruchsvoll sie sind, geht auch daraus hervor, dass das Bundesverfassungsgericht die geschäftsmäßige Sterbehilfe kritisiert, die sich bei der Prüfung der Autonomie des Suizidwunschs mit „nicht näher nachvollziehbaren Plausibilitätsgesichtspunkten“ begnügt und „bei Vorliegen körperlicher und psychischer Erkrankungen auch ohne Sicherstellung einer fachärztlichen Untersuchung, Beratung und Aufklärung Suizidhilfe geleistet“ hat. Das Bundesverfassungsgericht ist besonders um die Autonomie der älteren und kranken Menschen besorgt, die sich aus dem „Bedürfnis, keine Last für die Familie oder die Gesellschaft darzustellen“, zur Annahme von Angeboten der Suizidhilfe veranlasst sehen könnten.

Einen Ertrag verspricht die Beratung nur, wenn sie kompetent erfolgt und in einer Atmosphäre des Vertrauens stattfindet. Die vorliegenden Entwürfe oder Anregungen zu einer Regelung setzen auf staatliche oder staatliche anerkannte Beratungsstellen oder auf die Beratung durch Psychiater und multidisziplinäre Teams. Auch Beratungsstellen der Träger der freien Wohlfahrtspflege sollen staatlich anerkannt werden können, und ältere und kranke Menschen werden in der Tat gerade bei Einrichtungen der Kirchen auf ein vertrauensvolles Gespräch hoffen.

Die beiden großen Kirchen verstehen sich als „Anwälte des Lebens“. Die katholische Kirche betont, das Leben sei ein Geschenk Gottes, über das der Mensch nicht zu verfügen, das er vielmehr bis zum Ende zu bewahren habe. „Die Entscheidung gegen das eigene Leben … widerspricht fundamental dem Wesen des Menschen.“ Sie sieht ein gesellschaftliches Klima heraufziehen, in dem die Würde des Menschen angetastet ist, weil der Mensch biopolitisch auf seine Brauchbarkeit reduziert wird und alte und kranke Menschen sich von der jungen Generation zum Suizid geradezu gedrängt fühlen. Auch für die evangelische Kirche steht der Lebensschutz an erster Stelle. Auch sie sorgt sich um die Folgen der Zulassung der Suizidhilfe für das gesellschaftliche Klima. „Der assistierte Suizid darf nicht zu einer normalen Option unter anderen werden“.

Allerdings haben die Kirchen das Opfer des Lebens für den Glauben oder auch für andere und mit anderen immer verehrt. Der altruistische Suizid war und ist in der christlichen Tradition eine Option und nicht eine dem „Wesen des Menschen“ widersprechende Handlung. Der Mensch hat die Freiheit, sein Leben für Höheres hinzugeben; das göttliche Geschenk des Lebens impliziert das göttliche Geschenk der Freiheit. Alles andere wäre kruder Vitalismus und Naturalismus.

Die Freiheit ist keine selbstherrliche Willkür, sondern eine zu verantwortende Freiheit. Auch der Suizid ist nicht einfach Privatsache; wer ihn begeht, beendet zwischenmenschliche Beziehungen und trägt dafür die Verantwortung. Zugleich sucht, wer beim Suizid um Hilfe bittet, eine zwischenmenschliche Beziehung, die ihrerseits verantwortbar sein und verantwortet werden muss. Die Hilfe zum Suizid, die in der Beratung der Suizidwilligen zunächst Hilfe bei der Entscheidung für oder gegen den Suizid ist, ist oft die letzte zwischenmenschliche Beziehung. Sie gelingt, wenn sie von Empathie, Vertrauen und der Bereitschaft, die Entscheidung der Ratsuchenden zu respektieren, getragen ist – von dem, was seit jeher das seelsorgerliche Gespräch auszeichnet.

Die Warnung der Kirchen vor einer Gesellschaft, in der, weil Suizidhilfe leicht zu haben ist, alte und kranke Menschen nicht mehr akzeptiert werden und der Wert des Menschen mit zunehmendem Alter rapide abnimmt, ist berechtigt. Aber davon ist zu scheiden, was die Kirche den Menschen schuldet, die die Widersprüche ihres Lebens nicht mehr aushalten und den einzigen Ausweg im Suizid sehen. Im konkreten Einzelfall geht es nicht mehr um Gesellschaftspolitik, sondern um den seelsorgerlichen Auftrag und seine Erfüllung in den kirchlichen Einrichtung als safe spaces – ohne dass dadurch die gesellschaftspolitische Position relativiert oder gar diskreditiert würde.

Die Vermengung des gesellschaftspolitischen Mahnens und Warnens mit der seelsorgerlichen Aufgabe führt die Kirchen dazu, sich als „Anwälte des Lebens“ zu verstehen, die den Suizidwilligen zwar das Gespräch nicht verweigern wollen, dabei aber meinen, nicht neutral bleiben und nur eine „Beratung zum Leben“ bieten zu dürfen. Aber weder ein Gesprächspartner der geschäftsmäßigen Suizidhilfe, der ein weiteres Geschäft wittert, noch ein Gesprächspartner, der die Suizidwilligen von ihren Entscheidungen abbringen will, ist geeignet, diesen in ihrer Not und bei ihrer Entscheidung zu helfen. Dazu ist nur eine konsequent nicht-direktive Beratung fähig. Das ist in der Gesprächstherapie seit Jahrzehnten bekannt, und seit Jahrzehnten sind die entsprechenden Gesprächsführungsmethoden erprobt.

Der Verzicht, auf die Suizidwilligen Druck auszuüben, ist mit den Grundsätzen kirchlicher Seelsorge vereinbar. Die Seelsorge, die in Kliniken, Pflegeinrichtungen und Beratungsstellen praktiziert wird, hat die personellen Ressourcen und die Erfahrung, eine Praxis der Suizidberatung zu etablieren, die kirchlich ist, weil die Kirchen hier nicht als Anwälte der gesellschaftspolitischen Bedeutung des Lebens schlechthin, sondern als Anwälte der Menschen agieren, die in Not und Freiheit nach einer Lösung für ihr konkretes Leben suchen.

Die Verantwortung für die gesetzliche Regelung der Suizidhilfe trägt der Staat, indem er sie trifft – wie er sie für jede gesetzliche Regelung trägt. Er genügt ihr nicht erst, wenn er die Suizidberatung staatlichen oder staatlich anerkannten Stellen überträgt. Welches die richtigen Stellen für die Suizidberatung sind, hängt davon ab, wo die Suizidwilligen auf ein empathisch, vertrauens- und respektvoll geführtes Gespräch hoffen können. Verschiedene Suizidwillige werden sich bei verschiedenen Gesprächspartnern am besten aufgehoben fühlen, und alles spricht dafür, die gesetzliche Regelung anschlussoffen für verschiedene Gesprächspartner und -abläufe zu halten. Der erste Ansprechpartner für Suizidwillige wird regelmäßig der Arzt sein, der sie durch Jahre ihres Lebens begleitet hat und von dem sie nun hoffen, dass er sie in den Tod begleitet. Er allein kann den Anforderungen des Bundesverfassungsgerichts an die Beratung nicht genügen. Aber er kann den Weg zu den weiteren Beratungsschritten weisen. Die entsprechende Regelung sieht nach unserem Vorschlag so aus:

  1. Die Suizidwilligen äußern ihren Suizidwunsch gegenüber einem Arzt ihres Vertrauens und bitten ihn um Beratung. 

  2. Der um Beratung gebetene Arzt vergewissert sich und protokolliert, wenn die Suizidwilligen die Entscheidung zum Suizid

    • frei und autonom, das heißt 
    • nicht unter dem Einfluss einer akuten psychischen Störung,
    • nicht unter dem Druck ihres familialen oder sozialen Umfelds, sei es auch nur dem Druck, sich mit der Möglichkeit des Suizids zu beschäftigen,
    • in Kenntnis von Alternativen zum Suizid, von Möglichkeiten der Veränderung ihrer Lebensumstände einschließlich der Möglichkeiten medizinischer, psychiatrischer und psychotherapeutischer Behandlung und palliativmedizinischer Betreuung, und
    • in Kenntnis, wie der Suizid ablaufen wird, treffen; in der Beratung und der Protokollierung enthält er sich der Beurteilung der Ursachen und Motive des Suizidwunschs.  
  3. Um sich der Freiheit und Autonomie der Suizidwilligen verlässlich zu vergewissern und sie verlässlich protokollieren zu können, zieht der Arzt zu einem zweiten Termin je nach Befinden und Situation der Suizidwilligen einen Psychiater, Psychotherapeuten, Sozialarbeiter, Pfarrer oder Palliativmediziner hinzu; der Hinzugezogene bestätigt auf dem Protokoll seine Beteiligung an der Beratung.

  4. Ein anderer Arzt kann den Suizidwilligen bei Vorlage des Protokolls das Rezept für das Mittel für den Suizid ausstellen, wenn seit dem zweiten Arzttermin mindestens vier Wochen vergangen sind und kein Anhalt dafür besteht, dass sich das Befinden oder die Situation der Suizidwilligen derart geändert hat, dass die protokollierte Beratung dem Befinden oder der Situation nicht mehr gerecht wird. Er vermerkt die Ausstellung des Rezepts auf dem Protokoll und hinterlegt es bei der Ärztekammer.

Die Regelung lässt manches offen und soll es offen lassen. Der erste Ansprechpartner der Suizidwilligen, der Arzt ihres Vertrauens, kann ein frei praktizierender Arzt oder ein Arzt in einem Krankenhaus, einer Einrichtung der freien Wohlfahrtspflege oder einer staatlichen Einrichtung sein. Er kann mit den weiteren beratenden Personen ad hoc oder regelmäßig oder, wenn in derselben Einrichtung beschäftigt, ständig zusammenarbeiten. Den Arzt, der nach Vorlage des Protokolls das Rezept ausstellt, können die Suizidwilligen selbst oder über den Arzt ihres Vertrauens finden; Krankenhäuser, kirchliche Einrichtungen, andere Einrichtungen der freien Wohlfahrtspflege, staatliche Einrichtungen und auch Sterbehilfevereine können den Suizidwilligen Angebote für die Schritte auf dem Weg vom ersten Beratungstermin bis zum Erhalt des Rezepts machen. Bei aller Offenheit wird durch das Protokoll gewährleistet, dass die Anforderungen des Bundesverfassungsgerichts an die Beratung erfüllt werden, und durch die Hinterlegung des Protokolls bei der Ärztekammer sichergestellt, dass die beteiligten Ärzte bei Anhaltspunkten für Missbrauch zur Rechenschaft gezogen werden können. Weil die Anforderungen des Bundesverfassungsgerichts an die Beratung bei dieser Offenheit erfüllt werden, gilt, dass eine Reduzierung der Offenheit unverhältnismäßig wäre.

Die meisten vorliegenden Entwürfe und Anregungen zu einer Regelung der Suizidhilfe stellen die Suizidhilfe, die der Regelung genügt, zu recht straffrei. Das muss auch für die geschäftsmäßige Suizidhilfe gelten, für die Geschäftsmäßigkeit nicht Gewinnverfolgung bedeutet, sondern lediglich wiederholte Vermittlung der erforderlichen ärztlichen Kontakte, von der Überzeugung getragen, dass, wer Suizidhilfe sucht, sie auch finden soll. Während bei Beratungen in kirchlichen Einrichtungen die Bereitschaft, die Entscheidung für wie gegen den Suizid zu respektieren, durch den Wunsch, Mut zum Leben zu machen, beeinträchtigt werden mag, mag sie es bei Beratungen bei Sterbehilfevereinen durch die Überzeugung sein, Suizid sei eine selbstverständliche Angelegenheit. Die Einstellung der beratenden Ärzte und der anderen an der Beratung beteiligten Personen zum Suizid lässt sich aus der Beratung nicht völlig verbannen. Sie können nur daran erinnert werden, dass nach aller Erfahrung nur eine nicht-direktive Gesprächsführung geeignet ist, den Suizidwilligen in ihrer Not und bei ihrer Entscheidung zu helfen.

Diese Erinnerung könnte Teil einer speziellen Aus- oder Fortbildung für die Ärzte des Vertrauens werden, die als erste mit dem Wunsch um Beratung angesprochen werden. Es könnten psychologische Kenntnisse und therapeutisches Geschick vermittelt und Erfahrungen aus der Beratung von Menschen in verschiedenen Lebens- und Krisensituationen weitergegeben werden; dies könnte sowohl bei der Beratung durch die Ärzte selbst als auch dabei helfen, beim zweiten Beratungstermin genau den hinzuziehen, dessen Beratung die Suizidwilligen bedürfen.

Muss die Aus- oder Fortbildung verpflichtend gemacht werden? Dagegen spricht zum einen, dass das, was dem Arzt des Vertrauens an Kompetenz fehlt, durch die Kompetenz der beim zweiten Beratungstermin hinzuzuziehenden Berater kompensiert wird. Zum anderen kann davon ausgegangen werden, dass Ärzte sich nur dann auf die Mühe der beiden Beratungen, der Hinzuziehung der weiteren Berater und der Erstellung des Protokolls einlassen, wenn es ihnen ein ernstes Anliegen ist, Suizidwilligen in ihrer Not- und Entscheidungslage zu helfen – Geld ist damit nicht zu machen. Viele von ihnen werden Aus- oder Fortbildungsangebote von Kirchen, anderen Trägern der freien Wohlfahrtspflege oder auch des Staates gerne annehmen. Verpflichtungen der Ärzte zur Aus- und Fortbildung, Verpflichtungen der Ärztekammern zu deren Angebot, Durchführung, Abschluss und Kontrolle wären eine unnötige Bürokratisierung.

In seiner Entscheidung zur Suizidhilfe hat das Bundesverfassungsgericht die doppelte Verantwortung des Staats herausgestellt: Er schuldet den Menschen, die zum Suizid entschlossen sind, die Achtung ihrer Freiheit, sich das Leben zu nehmen, und er schuldet ihnen zugleich Schutz gegen Beeinflussungen und Bedrängungen, die ihre Autonomie beim Entschluss zum Suizid beeinträchtigen. Das Bundesverfassungsgericht sieht die doppelte Verantwortung in einer Beratung erfüllt, in der sichergestellt wird, dass die Entscheidung für den Suizid tatsächlich frei und autonom getroffen wird. Die Regelung, die dies sicherstellt, kann offen sein – offen dafür, dass die Suizidwilligen die Ärzte ihres Vertrauens als erste Ansprechpartner wählen, offen für verschiedene, auf das Befinden und die Situation der Suizidwilligen zugeschnittene Beratungen, offen für verschiedene Gestaltungen der Modalitäten der Beratung, einrichtungsfern oder einrichtungsnah. Unter der Verpflichtung auf den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit muss sie für diese Vielfalt auch so offen wie möglich sein. Der hier vorgelegte Vorschlag einer offenen Regelung will der Verantwortung in Vielfalt genügen.

Irmgard Schwaetzer ist Bundesministerin a.D., Rolf Schieder und Bernhard Schlink sind emeritierte Professoren der Humboldt Universität zu Berlin für Praktische Theologie bzw. Öffentliches Recht und Rechtsphilosophie; alle sind Mitglieder des Berliner Instituts für Religion und Politik. – Der Text entstand im März 2022.