Die Parteien und ihre konfessionellen Milieus

Die Wurzeln des deutschen Parteiensystems reichen zurück bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts. Die Parteien waren damals Weltanschauungsparteien. Katholiken organisierten sich in der Zentrumspartei, Protestanten entweder bei den Nationalliberalen oder den Sozialliberalen, materialistische Agnostiker und Atheisten bei den Sozialisten.

Erst nach dem 2. Weltkrieg lösten sich die konfessionellen Milieus allmählich auf. Den Anfang machte die CDU, die nicht mehr nur den katholischen Teil der Bevölkerung vertreten wollte, und auch evangelische Christen einlud, für sie zu kandidieren. Mit dem Godesberger Programm machte auch die SPD den Schritt von einer Weltanschauungspartei zur Volkspartei. Die FDP kappte ihre Wurzeln zum liberalen Protestantismus mit dem Wahlslogan von 1969 „Wir schneiden die alten Zöpfe ab!“. Sie wurde zur Partei der Unternehmer und Selbständigen.

Die liberalen protestantischen Milieus fanden in der Partei der Grünen eine neue Heimat, nachdem diese ihre frühe fundamentalistische Phase überwunden und mit dem Programm der Diversität ein klassisches liberales, aber durchaus auch religionsfreundliches Feld besetzte. Auf die Wählerstimmen aus den evangelischen Pfarrhäusern können sich die Grünen seither verlassen.

Aber auch die SPD wurde für Christen zunehmend attraktiv. Engagierte Katholiken aus dem Osten wie Wolfang Thierse, aber auch engagierte Protestanten wie Gustav Heinemann und Johannes Rau waren Indikatoren, dass das Band zwischen Konfessionszugehörigkeit und Parteienbindung immer loser wurde. Bei der Linken und der AfD ist die Religionszugehörigkeit am geringsten.

Insgesamt zeigt sich, dass Wählerinnen und Wähler nicht mehr aufgrund religiös-weltanschaulicher Milieubindung, sondern pragmatisch und interessengeleitet abstimmen. Das ist vor allem für die CDU/CSU eine schlechte Nachricht. Denn bisher konnte sie sich auf ihre katholische Wählerschaft verlassen. Mit dem Vertrauensverlust, den die katholische Kirche in den letzten Jahren erlitten hat, ist die Zahl ihrer „Stammwähler“ drastisch geschrumpft.

Die Auflösung der religiös-weltanschaulichen Milieus ist für die politische Kultur in mehrfacher Hinsicht eine gute Nachricht. Parteienpräferenz ist kein Religionsersatz mehr, sondern Folge einer pragmatischen Entscheidung. Fehlentscheidungen von Parteien haben deshalb unmittelbar Auswirkungen auf das Wahlergebnis. Das kann der Qualität des Regierens in schwieriger Zeit gut tun - wenn die Wählerinnen und Wähler vernunftgeleitet und nicht nur gemäß momentaner Stimmungen und Meinungen abstimmen.

von Rolf Schieder, 1. Sept. 2021

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