Keine religiös-weltanschauliche Identitätspolitik!

Der weltanschaulich neutrale Staat garantierte das Individualrecht der Religionsfreiheit. Einer identitätspolitischen Aufladung muss er aber widerstehen. Dies wird versucht, wenn so unterschiedliche Ansprüche wie das Schächten von Tieren, die Beschneidung männlicher Neugeborener und das Anbringen eines Kreuzes in Dienstgebäuden des Freistaates Bayern gleichermaßen als Erfordernisse kultureller Identität legitimiert werden. Der demokratische Verfassungsstaat darf weder Minderheiten durch Zubilligung kultureller Traditionsrechte zu integrieren versuchen, noch eine kulturelle Identität der gesellschaftlichen Mehrheit vertreten. Denn eine Kultur eignet sich nicht als Rechtssubjekt. Der liberale Konstitutionalismus schützt ausschließlich individuelle Rechte. Wie Jürgen Habermas treffend betont hat, können Kulturen nicht in den Genuss eines »administrativen Artenschutzes« kommen. Individualrechte haben unbedingten Vorrang vor Kollektividentitäten.

Dies liegt gerade auch im Eigeninteresse aller Religionsgemeinschaften. Denn nur staatliches Recht vermag ihr friedliches Zusammenleben ebenso zu sichern wie ihre umfassende Religionsfreiheit. Solange die Religionen das Zustandekommen kollektiv verbindlicher Entscheidungen ausschließlich durch demokratische Verfahren akzeptieren, schützt und fördert der liberal-demokratische Staat Religionen in all ihrer Mannigfaltigkeit. Diese regelrechte Zugewinngemeinschaft aus Religion und Politik ist auch keine neue Entwicklung, sondern eine inhärente Logik der Säkularisierung. So bedeutet die häufig missverstandene Formel, Religion sei Privatsache, nicht, ihr eine öffentliche Rolle und Funktion streitig machen zu wollen, sondern ihr in einer pluralistischen Gesellschaft das Recht zu geben, ihre Positionen gerade deshalb offen vertreten zu können, weil über ihre Anerkennung auf der anderen Ebene demokratischer Verfahren entschieden wird. Der in der Französischen Republik offenkundig eklatant gescheiterte, radikale Laizismus passt hingegen nicht zum liberal-demokratischen Verfassungsstaat.

So gilt für jede Religion, was Ernst-Wolfgang Böckenförde vor einem halben Jahrhundert von den christlichen Konfessionen gefordert hat, nämlich dass sie den freiheitlich-säkularen Staat »nicht länger als etwas Fremdes, ihrem Glauben Feindliches« ansehen sollten, »sondern als die Chance der Freiheit, die zu erhalten und zu realisieren auch ihre Aufgabe ist.«

von Karsten Fischer, 01. Apr. 2021

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